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Walter Bredendiek-Carl Ordnung-Günter Wirth
Walter Bredendiek Carl Ordnung Günter Wirth
Vorbemerkungen
Walter Bredendiek
Carl Ordnung
Günter Wirth
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Inhalt
Nachwort


Walter Bredendiek:

KIRCHENGESCHICHTE VON ,LINKS’ UND VON ,UNTEN’.
Studien zur Kirchengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
unter sozialhistorischer Perspektive.
Herausgegeben von
Hans-Joachim Beeskow und Hans-Otto Bredendiek

Mit einem Nachwort von Carl Ordnung
Leonhard-Thurneysser-Verlag Berlin & Basel 2011


Nachwort von Carl Ordnung

„Wer nicht von dreitausend Jahren weiß, sich Rechenschaft zu geben, bleibt im Dunkel unerfahren, mag von Tag zu Tage leben.“ Diese Goethesche Maxime hat Walter Bredendiek immer wieder einmal zitiert, drückte sich in ihr doch auch seine Überzeugung aus, daß Geschichtskenntnisse Orientierungswissen vermitteln, daß man also aus der Geschichte lernen könne. Manche überraschende Vorgänge der Gegenwart kommen für den nicht unerwartet, der sich in der Geschichte nicht unbedingt von 3000 Jahren, aber der letzten beiden Jahrhunderte auskennt. Ich denke dabei etwa an den rasanten gesellschaftlichen Bedeutungsverlust, den die christlichen Kirchen in unserem Land seit einiger Zeit erleben. Schon seit dem 19. Jahrhundert verloren sie an christlich-glaubensmäßiger Substanz, wurde das Christentum zur politischen Verteidigung des gesellschaftlichen Status quo aufgeboten und das Kirchenvolk in diesem Sinne indoktriniert. Gott sei Dank gab es immer auch andere Positionen, aber die blieben in der Minderheit, wurden an den Rand gedrängt und teilweise offen bekämpft.
Walter Bredendiek zeigte sich schon als Schüler an historischen Vorgängen interessiert. In seiner Heimatstadt Gramzow traf er auf einen evangelischen Pfarrer, der dies förderte und ihm Zugang zum Archiv der Kirchengemeinde gewährte.
Als ältester Ort in der Uckermark konnte Gramzow auf eine reiche, wechselvolle Geschichte zurückblicken: 1168 Klostergründung durch Prämonstratenser, im 17. Jahrhundert Hugenotten Siedlung usw. So lernte er schon in jungen Jahren, daß es immer um ganz konkrete Vorgänge geht und daß man differenzieren muß. In diesem Sinne wandte sich der Professor für Neue und Neuste Kirchengeschichte später besonders solchen Bereichen seines Fachgebietes zu, die gern übersehen und verdrängt wurden, weil sie die Kirche in einem ungünstigen Licht zeigten. Aber bis dahin mußte Walter Bredendiek noch einen weiten Weg zurücklegen.
Kindheit und Jugend des am 7. April 1926 in Swinemünde Geborenen standen nicht nur familiär unter einem ungünstigen Stern. Sie waren vor allem durch die Kriegsereignisse und die Turbulenzen der Nachkriegszeit überschattet. Beide Eltern waren Lehrer. Doch die Mutter starb wenige Tage nach seiner Geburt, der Vater, als der Junge 9 Jahre alt war. So wuchs er im Hause einer Tante und der Großmutter in Gramzow auf, aus dem der Vater stammte. Seine Schulzeit beendete der offensichtlich Hochbegabte im Frühjahr 1943 in Angermünde, um unmittelbar danach das Studium der Geschichte und Germanistik in Berlin zu beginnen, das er jedoch nach wenigen Monaten wegen der Einberufung zum Arbeitsdienst abbrechen muß. Anfang 1944 muß er Soldat werden. Bei Kriegsende  gerät er in amerikanische Kriegsgefangenschaft, die er zuletzt in einem Lager bei Hannover als menschlich entwürdigend erlebt. Nach der Entlassung begibt er sich zur Familie seiner Stiefmutter, die in einem Dorf bei Hamburg eine Bleibe gefunden hatte – um sofort wieder in Hamburg zu studieren, dieses Mal Theologie.
Doch 1946 hat er Schwierigkeiten, das Studium zu finanzieren. Außerdem sehnt er sich wohl nach den schlimmen Erfahrungen im Kriege und angesichts der Frage, wie es mit ihm persönlich weitergehen soll nach dem Rat eines väterlichen Freundes. So macht er sich auf ins heimatliche Gramzow, denn dort hatte er einen solchen Freund: Pfarrer Karl Heinrich Brandt. Am 6. April 1966 nimmt Walter Bredendiek den 25. Jahrestag seiner Konfirmation zum Anlaß, den Pfarrer in einem Brief zu erinnern „an die Jahre von 1941 bis 1943, die Zeit, in der Sie meine Entwicklung sehr stark beeinflußten. Das, was einem Menschen zwischen dem 15. und 20. Jahre an Leitbildern von anderen vermittelt wird, prägt ihn wohl am nachhaltigsten für sein ganzes Leben.“
Was waren das für Leitbilder, die der Pfarrer dem Heranwachsenden vermittelt hatte? Natürlich der christliche Glaube, gepaart mit Weltoffenheit und einer Vielfalt unterschiedlicher Interessen, Toleranz und das Wissen um einen notwendigen Neuanfang in Deutschland. Auf Vorschlag des Pfarrers wird Walter Bredendiek Lehrer in Gramzow, damals eine Hochburg der CDU. 1947 legte er die erste Lehrerprüfung ab und begann Ende des Jahres das Studium der Pädagogik mit Schwerpunkt Geschichte und Germanistik an der Berliner Universität – seit 1949 Humboldt-Universität. Denn daß der gesellschaftliche Neuanfang ganz wesentlich eine Erziehungsaufgabe sein mußte, das war ihm klar. Ende 1950 legte er das Staatsexamen „summa cum laude“ ab und nahm eine Tätigkeit am Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut (DPZI) auf.
Noch in Gramzow war Walter Bredendiek Mitglied der CDU geworden. In dieser Partei sah er die Möglichkeit, seinen Beitrag zur gesellschaftlichen Neugestaltung zu leisten. So wurde er in Berlin für die CDU in der Hochschulpolitik aktiv. 1947 hatte Winston Churchill mit seiner Rede in Fulton den kalten Krieg eröffnet, was die Spaltung der Anti-Hitlerkoalition einleitete. Das führte in der Berliner CDU zu heftigen Auseinandersetzungen, an denen sich Bredendiek intensiv beteiligte. Hatte die westdeutsche CDU in ihrem Ahlener Programm 1947 noch erklärt: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“ und die Sozialisierung von Bergbau und Schwerindustrie gefordert, so verwarf sie jetzt diese Konsequenzen, die man seinerzeit aus Faschismus und Krieg gezogen hatte, und betrieb die Restauration des Kapitalismus. Dies wurde für bürgerliche Kräfte in der Ost-CDU zur Herausforderung, sich gesellschaftlich neu zu orientieren. Damit begann für viele ein oft langwieriger und widerspruchsvoller Entwicklungsprozeß, an dessen Ende die Einsicht stand, daß man nur an der Seite der Linken, der „Partei der Arbeiterklasse“ einen Beitrag für eine erneuerte Gesellschaft leisten könne. Daß politische Deformationen und krimineller Machtmißbrauch seitens der SED dies später ins Gegenteil verkehrten, war damals schlechterdings nicht vorauszusehen.
Jetzt ging es erst einmal darum, eine eigene programmatische Basis für die Ost-CDU zu konzipieren. Daran war Walter Bredendiek intensiv beteiligt. Ende 1952 verließ er das DPZI und ging hauptamtlich in den CDU-Parteiapparat. 1953 veröffentlichte er eine umfangreiche Studie über „Christliche Sozialreformer des 19. Jahrhunderts“, die deutlich machen wollte, in welchen Traditionslinien sich die CDU sah. Die in dieser Untersuchung zutage tretende wissenschaftliche Leistung

ist umso eindrucksvoller, als dem Verfasser dazu ja keineswegs ein jahrelanges ungestörtes Studium gegönnt war. Er reiste nun viel durch die DDR, hielt Vorträge über die Inhalte des Buches und andere Themen, führte Gespräche mit Theologen und Kirchenführern und erregte kurz nach dem 17. Juni 1953 Aufsehen mit einem Leitartikel in der CDU-Zeitung „Neue Zeit“: „Fragen christlicher Lehrer.“ (s. S. 264 ff. dieses Bandes) Im Sommer 1954 kam es zu Spannungen zwischen ihm und CDU-Generalsekretär Gerald Götting, die mit seiner fristlosen Entlassung endeten.
Er ging zurück in den Schuldienst nach Gramzow. Dort lebte ohnehin noch seine Frau Marianne, geb. Watzke, die in Gramzow als Horterzieherin tätig war. Beide hatten 1951 geheiratet. Der Familie wurden drei Söhne und eine Tochter geschenkt. Im Oktober 1955 holten ihn CDU-Freunde nach Berlin zurück. Er wurde Sekretär des Christlichen Arbeitskreises beim Friedensrat der DDR. Das war eine Aufgabe, die ihn in den folgenden 10 Jahren voll ausfüllte, konnte er doch dabei praktische politische Bewußtseinsbildung mit seinen Interessen als Historiker glücklich verbinden.
Diese neue Tätigkeit führte ihn zusammen mit Theologen, die in der Zeit der Weimarer Republik und während des Faschismus an kirchlichen Auseinandersetzungen beteiligt und teilweise politischer Verfolgung ausgesetzt, für ihn also interessante Zeitzeugen waren, mit denen ihn bald eine freundschaftliche Beziehung verband. Zu denken ist dabei beispielsweise an Emil Fuchs, Karl Kleinschmidt und Erich Hertzsch, die von der Bewegung der Religiösen Sozialisten kamen, oder an Johannes Herz, der für den „Christlich-Sozialen Kongress“ gearbeitet hatte, und Walter Feurich von der Bekennenden Kirche. Aber auch die bürgerliche Friedensbewegung, deren Traditionen zum Teil vom DDR-Friedensrat aufgenommen wurden, weckte sein Interesse, zumal sie zeitweise stark von Theologen geprägt war.
Bei der Beschäftigung mit der Geschichte dieser Bewegungen stieß er notwendigerweise auf ihre Kontrahenten: u. a. die offizielle, sehr konservative Kirche. Was er dabei an Vorgängen und Äußerungen zutage förderte, verschlägt einem heute noch die Sprache. Es ist eines, allgemein zu wissen, daß die Kirchen vor 1914 kaisertreu und staatsverbunden waren und der Weimarer Republik distanziert bis ablehnend gegenüberstanden. Ein anderes ist, sich vor Augen zu führen, wie das im konkreten Einzelfall aussah. Und Walter Bredendiek war ein Fanatiker des Details, weil das Geschichte lebendig und anschaulich macht. So schrieb er eine Fülle von Zeitschriftenartikel, lieferte Beiträge für Sammelbände und legte eine Reihe einschlägiger Arbeiten vor, etwa, um nur drei Beispiele zu nennen „Die Friedensappelle deutscher Theologen von 1907/08 und 1913“ und „Zwischen Revolution und Restauration. Zur Entwicklung im deutschen Protestantismus während der Novemberrevolution und in der Weimarer Republik“, sowie „Reflektierte Geschichte. Die Entwicklung der Gesellschaft und die Stellung von Kirche und Theologie seit 1900 im Spiegel der Lebenserinnerungen deutscher Theologen“. Diese zuletzt genannte Arbeit ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den er am

8. Mai 1965 auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg hielt, auf der gleichzeitig der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker referierte. Mit dieser kirchlichen Einrichtung war Walter Bredendiek eng verbunden. Darüber hinaus erhielt er Einladungen an Theologische Fakultäten, zu Pfarrkonventen, Gemeindeseminaren u. a., um dort zu referieren.
Von Anfang an beteiligte er sich auch intensiv an der Arbeit der Christlichen Friedenskonferenz (CFK), die auf Initiative tschechoslowakischer Theologen 1958 in Prag als internationale christliche Friedensbewegung ins Leben gerufen worden war. Er wurde in deren DDR-Leitungsgremium gewählt und war Mitglied einer internationalen Studiengruppe, die sich mit der deutschen Frage und europäischer Sicherheit beschäftigte.
Anfang der 1960er Jahre wurde die Arbeit des DDR-Friedensrates reorganisiert, der bis dahin fast eine Art Basisbewegung war. In jedem Kreis bestand ein Friedensrat, desgleichen in  vielen Städten. Es gab Betriebs-, Universitäts-, Schulfriedensräte usw.. Auf Beschluß des Zentralkomitees der SED sollten alle diese Aktivitäten in Zukunft von der Nationalen Front übernommen werden und der zentrale Friedensrat wesentlich internationale Aufgaben wahrnehmen. Mit Mühe gelang es, den christlichen Arbeitskreis, wenn auch mit eingeschränktem Aktionsradius zu erhalten. Walter Bredendiek sah diese Veränderungen kritisch, was er in einem umfangreichen Memorandum unterstrich. Sie dämpften erheblich seine Freude an der Arbeit im Friedensrat.
Ohnehin hatten ihm Freunde seit längerem nahegelegt, eine akademische Karriere anzustreben, weil sie ihn dafür besonders befähigt hielten. Theologieprofessoren, aber auch einige marxistische Historiker wandten sich mit entsprechenden Vorschlägen an das zuständige Ministerium. So erhielt er zunächst 1967 eine wissenschaftliche Aspirantur an der Theologischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität, die ihn dann 1971 zum Dr. theol. Promovierte – und zwar auf Grund der bereits vorliegenden wissenschaftlichen Arbeiten. Waren doch beispielsweise allein seine „Christlichen Sozialreformer des 19. Jahrhunderts“ bereits in das einschlägige Standardwerk „Kompendium der Kirchengeschichte“ von Karl Heussi und andere Veröffentlichungen als weiterführende Literatur aufgenommen worden. Nach einem kurzen Zwischenspiel in Greifswald wurde er 1972 als Dozent, 1981 als Professor, für Neue und Neueste Kirchengeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg berufen.
Einer Lehrerfamilie entstammend, war Walter Bredendiek von einem pädagogischen Eros durchdrungen. Er hatte selbst noch die Schrecken des Krieges erlebt, Tod, Zerstörungen und Verwüstungen gesehen. Später sagte er: „Entgegen den Erfahrungen vieler wurde dem deutschen Volk am 8. Mai 1945 die große Chance neugeschenkten Lebens zuteil.“ Mitzuhelfen, daß diese Chance in lebens- und friedensfördernder Weise genutzt wurde, war sein Grundanliegen. Die Erkenntnisse, die seine Untersuchungen zutage gefördert hatten, hielt er für geeignet, Menschen dazu zu motivieren. Deshalb wollte er sie besonders jungen Menschen vermitteln. Da er dies nicht rechthaberisch tat, sondern sehr sachlich und mit großer Offenheit gegenüber anderen Meinungen und mit viel Verständnis für die Fragen junger Menschen, wurde er sehr bald zu einem geachteten akademischen Lehrer in Halle und später in Berlin, wohin er 1983 wechselte. Es waren eine Vielzahl von Themen, die er mit seinen Studenten bearbeitete. Beispielsweise die Gruppen und Personen, die Hans Joachim Iwand als die „Irregulären“ bezeichnete: Randerscheinungen aus der Sicht der etablierten Kirche, bei denen aber zumeist die Botschaft des Evangeliums deutlicher zu vernehmen war als in den kirchlichen Institutionen. Besonders widmete er sich den Lebenserinnerungen von Theologen und Kirchenführern, die für das 19. und 20. Jahrhundert in beträchtlicher Zahl vorliegen. Sie erwiesen sich als sehr ergiebige Quelle für die kirchliche Zeitgeschichte. Er hatte eine Fülle von Plänen für Veröffentlichungen, von denen einige schon ziemlich weit gediehen waren. Etwa über die Bewegung der Religiösen Sozialisten, Bertha von Suttner, Otto Umfrid und Emil Fuchs. Für andere sammelte er Material. Leider hat sein früher Tod am 26. Juli 1984 diesem fruchtbaren Schaffen ein jähes Ende gesetzt. Sein Nachlaß, der in der Berliner Zentral- und Landesbibliothek aufbewahrt wird, umfaßt mehr als 200 Aktenordner.
Was ist das Vermächtnis Walter Bredendieks?
Auf einer außerordentlichen EKD-Synode in Berlin 1956 hielt der Cottbuser Generalsuperintendent Günter Jacob ein damals Aufsehen erregendes Referat über „Das Ende des Konstantinischen Zeitalters.“ Darin verwies er darauf, daß das Bündnis zwischen Staat und Kirche, Thron und Altar, das im 4. Jahrhundert durch Kaiser Konstantin eingeleitet und durch die Proklamation des Christentums zur Staatsreligion seitens seines Nachfolgers Theodosius befestigt wurde und welches seitdem die europäische Gesellschaft tiefgreifend geprägt hat. Durch die politische Entwicklung der letzten Jahre sei es an ein Ende gekommen, was man im Osten unseres Landes besonders deutlich wahrnehme. Günter Jacob forderte die Kirche auf, diese Entwicklung zu akzeptieren. Nach einigen Diskussionen verschwand das Thema allerdings schon bald wieder von der kirchlichen Tagesordnung, so als ob eine historische Grundkonstellation die über tausend Jahre lang Staat, Kirche und vor allem auch die Menschen bestimmt hatte, sang- und klanglos und ohne größere Folgen sich einfach auflösen und verschwinden könne.
Die Lektüre vieler Bredendiekscher Texte macht dagegen deutlich, daß dieses Konstantinische Zeitalter besonders in Deutschland noch immer massiv nachwirkt. Jene Texte wurden vor 30, 40, ja sogar 50 Jahren geschrieben, in einer Zeit, als die Kirchen eine gewisse Lebendigkeit zeigten – im Osten angesichts der Herausforderungen der säkularen Gesellschaft, in beiden deutschen Staaten infolge der ökumenischen Bewegung (Antirassismusprogramm u. a.) und der aktuellen Friedensfrage. Betrachtet man dagegen ihre heutige Selbstbeschäftigung und Unentschiedenheit angesichts ihres Bedeutungsverlustes und der kontinuierlichen Schrumpfung der Gemeinden, wird einem klar, daß sie die Aufgabe der geistlichen und geistigen Überwindung der Nachwirkungen des Konstantinischen Zeitalters offensichtlich noch kaum begriffen, geschweige denn in Angriff genommen haben.
Viele der kirchlichen Außenseiter, auf die Bredendiek unsere Aufmerksamkeit lenkt, hatten das Problem schon vor Jahrzehnten erkannt. Etwa Dr. Carl Vogl (s. S. 175 ff. dieses Bandes), der 1917 in einer Broschüre über „Die evangelische Kirche und der Krieg“ über das offizielle Christentum schreibt: „Wenn es Bankrott gemacht hat, dann bereits vor sechzehnhundert Jahren, damals, als es durch Kaiser Konstantin zur Staatsreligion avancierte. Das, was offiziell und kirchlich Christentum noch genannt wird, ist so gut wie in allen wesentlichen Punkten das gerade Gegenteil vom ursprünglichen Christentum.“ Es war das kriegführende Staatskirchentum, das der Autor vor Augen hatte. Wer aber erwartete, daß die Niederlage Deutschlands sowie Leid und Not, die der Krieg über die Menschen gebracht hatte, Deutschlands Kirchen zu Nachdenken und Umkehr bewegen würde, sah sich enttäuscht. Es waren nur wenige Theologen, bei denen das der Fall war. Die offiziellen Kirchen blieben monarchistisch gesinnt und lehnten die Republik ab und begrüßten die sogenannte nationale Erhebung des Faschismus 1933. Zwar formierte sich die Bekennende Kirche (BK) gegen die Deutschen Christen, die mit dem faschistischen Staat zusammenarbeiteten. Aber sie umfaßte nur eine Minderheit von Theologen, und viele von ihnen dachten politisch konservativ. Selbst die Niederlage des deutschen Faschismus führte kaum zu Besinnung und Neuorientierung. 1945 formulierten Vertreter der evangelischen Kirchen in Stuttgart ein Schuldbekenntnis. Martin Niemöller versuchte, in unzähligen Predigten und Vorträgen es zur Überzeugung der ganzen Kirche zu machen. 1948 jedoch mußte er feststellen: „Ich habe zwei Jahre nichts anderes getan, als den Menschen diese Schulderklärung zu predigen – leider ohne Erfolg.“ Als 1947 der Reichsbruderrat der BK in Darmstadt ein „Wort zum politischen Weg unseres Volkes“ verabschiedete, in dem die Irrwege benannt wurden, die wir Deutsche verlassen müßten, wurde das kaum noch gehört. In diesem Wort, auf das Walter Bredendiek immer wieder zurückkommt, kann man eine Art Programm zur Überwindung des Konstantinismus sehen.
Zu dieser ablehnenden Haltung, für die sich der biblische Begriff der Verstockung anbietet, hat natürlich der Beginn des Kalten Krieges beigetragen, in dem Westdeutschland als Bollwerk gegen den Kommunismus gebraucht wurde und auf diese Weise der Antikommunismus, der ein wesentlicher Aspekt der faschistischen Ideologie war, rehabilitiert wurde. Im Osten war die Kirche direkt mit den Vertretern eines „kommunistischen“ Landes als Besatzungsmacht konfrontiert, das aber gleichzeitig das Land war, das die größten Opfer bei der Niederringung des Faschismus gebracht hatte und das in diesem Kampf die meisten Menschen verloren hatte. Aber es waren nicht Gefühle der Schuld, die Kirchenvertreter in dieser Begegnung bewegten, sondern vielmehr die traditionellen Vorurteile, durch die man die Handlungen der Besatzungsmacht interpretierte. Dabei betrachtete die Sowjetische Militär Administration die Kirchen auf Grund der (nicht sehr zahlreichen) Antifaschisten in ihren Reihen, von denen einige in Konzentrationslager und Gefängnissen gelitten hatten, zunächst als eine antifaschistische Größe, die ausdrücklich zur Mitarbeit am gesellschaftlichen Neuaufbau eingeladen wurde.
Wie darauf reagiert wurde, macht exemplarisch eine Erklärung zur Friedensfrage deutlich, die die Leitung der Kirchenprovinz Sachsen in Magdeburg dem Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt über „Die Stellung der Kirchenleitung zur Weltfriedensbewegung“ zugehen ließ. Darin heißt es: „Wir sehen in dem Enthusiasmus der Weltfriedensbewegung einen Glauben an die Erlösung der Welt ohne Gott und ohne Christus durch den wissenschaftlichen Sozialismus. Ihre Mittel des revolutionären Klassenkampfes und des Krieges halten wir für unvereinbar mit dem göttlichen Gebot der Liebe. Ihre Hoffnung, aus eigener Kraft einen Zustand zu schaffen, in dem es keine Krisen und keine Kriege, keine soziale Ungerechtigkeit und kein Elend mehr gibt, ist in unseren Augen eine politische Schwärmerei mit religiösem Pathos.“ Deshalb fordere man die Pfarrer auf, sich von dieser Bewegung fernzuhalten. Das sind dieselben Argumente, mit denen bereits im 19. Jahrhundert die Mitwirkung in der Friedensbewegung abgelehnt wurde. Vor allem muß man fragen, ob die Verfasser darüber nachgedacht haben, wie ein solcher Text auf einen Marxisten wirken mußte, der doch sehr gut wußte, daß weite Teile der Kirche bis in die jüngste Vergangenheit hinein die Teilnahme am Krieg durchaus mit dem göttlichen Gebot der Liebe vereinbaren konnten. Mehr als die Hälfte der Mitglieder der Magdeburger Kirchenleitung kamen aus der BK. Natürlich hatten sie sich weiterentwickelt und dazugelernt. Im Unterschied zu ihren Vätern waren sie nicht mehr gegen die Sozialdemokratie, die inzwischen auch ihren Frieden, mit einem allerdings sozial zu reformierenden Kapitalismus gemacht hatte, was durchaus ein beachtenswertes politisches Konzept ist. An ihrer Ablehnung einer radikalen gesellschaftlichen Umgestaltung – und das heißt konkret an ihrem Antikommunismus – hielten sie fest. Im Grunde waren es nur die Religiösen Sozialisten, die diese linke Alternative bejahten.
Im Blick auf den Ausgang des realsozialistischen Experimentes in der DDR, der Sowjetunion und anderen osteuropäischen Staaten müßte man wohl sagen, es war verantwortlich und weise, daß sie sich dem verweigerten. Aber war dieses Ende jenes Experimentes zwangsläufig; mußte es so kommen? Golo Mann schreibt in seiner „Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ – und darauf weist Walter Bredendiek in anderem Zusammenhang hin: „Wir wissen, wie es ausgegangen ist, und sind darum versucht, zu glauben, daß es so habe ausgehen müssen. Was wirklich geschah, nehmen wir meist nachträglich als das Unvermeidliche hin ... ‚So ist es gekommen’ – allerdings, ‚So hat es kommen müssen’ – nein ... Unvermeidlich ist nichts, ehe es nicht geschah.“ Denn die eigene Entscheidung beeinflußt ganz wesentlich die Reaktion meines Kontrahenten. Was wäre geschehen, wenn viele Pfarrer seinerzeit das Angebot zur Zusammenarbeit mit der sowjetischen Besatzungsmacht aufgegriffen hätten?
Der spätere Magdeburger Bischof Werner Krusche hat 1997 im Gespräch mit Pfarrer Friedrich Schorlemmer auf die Frage, wie er die DDR-Staatsvertreter sah, geantwortet: „Sie haben mir auf der einen Seite leid getan, jedenfalls in den Anfangszeiten. Sie mußten plötzlich einen Staat aufbauen unter dem Erwartungsdruck des Osten und haben sich Mühe gegeben. Es waren ja meistens keine – im bürgerlichen Sinne „gebildete“ Leute. Denen, welchen man immer gesagt hatte, sie könnten nichts, konnte man doch nicht übelnehmen, wenn sie stolz waren auf das, was sie zuwege gebracht hatten. Früher, wenn ein Superintendent zum Königlich-Preußischen Landrat bestellt wurde, dann zog er sich einen Cut an und setzte sich den Zylinder auf. Sollten wir denen, die nun die Macht hatten, hemdsärmelig begegnen, nur weil sie aus den unteren Schichten kamen? Ich bin einer, der als Junge erlebt hat, wie es ist, wenn man arm ist, und andere so überlegen aufgetreten sind. Von daher hatte ich eine gewisse Solidarität mit den Vertretern des Staates.“ Was wäre anders gelaufen, wenn das die vorherrschende Haltung in den Kirchen gewesen wäre? Reicht es, zu sagen, die Marxisten hatten ihren festen Fahrplan? Verkennt das nicht die Dynamik des geschichtlichen Prozesses?
Richard Rorty, führender Philosoph in den USA, hat kurz vor seinem Tod 2007 einen Essay veröffentlicht unter dem Titel „Knospen, die sich niemals öffneten.“ Er beschreibt darin verpaßte geschichtliche Gelegenheit und verweist dabei auf die links-christliche Social Gospel Bewegung in den USA. Dann schreibt er: „Man kann sich ein 20. Jahrhundert vorstellen, in dem zwei Weltkriege und die große Depression vermieden, die bolschewistische Revolution zusammengebrochen und Sozialdemokraten wie Eugene Debs und Jean Jaures in hohe Staatsämter gewählt worden wären – dank des Engagements der christlichen Kirchen.“ Gewiß ist das eine Spekulation, aber es spricht vieles dafür. Fragt man, wer die größere Schuld daran trägt, daß dieses Bündnis zwischen Kirche und Sozialdemokratie nicht zustande kam, muß die eindeutige Antwort lauten: die Kirche. Der Sozialdemokratie ging es um Gerechtigkeit und Frieden. Das sind zwei zentrale Aspekte der biblischen Botschaft, die die Kirchen zugunsten ihres Bündnisses mit dem Thron verleugneten. Man stelle sich vor, was es bedeutet hatte, wenn die Kirchen, die seinerzeit noch beträchtliches gesellschaftliches Gewicht hatten 1914 Nein zum Krieg gesagt und 1933 vor dem faschistischen Umsturz gewarnt hätten. Solche Gedankenspiele lassen die Dimensionen des kirchlichen Versagens aufscheinen.
Daß dieses Versagen bisher kaum erkannt wurde, hängt wohl auch damit zusammen, daß wir uns verboten haben, von „Kollektivschuld“ zu reden, was insofern richtig ist, als nur individuelle Schuld justiziabel ist. Aber es gibt offensichtlich so etwas wie Kollektivschuld. Als sich Johann Hinrich Wichern Mitte des 19. Jahrhunderts mit Not und Elend des Proletariats konfrontiert sah, erkannte er darin eine solche Kollektivschuld. In seiner berühmten Rede auf dem Wittenberger Kirchentag 1848, die zum Anlaß für die Gründung der Inneren Mission wurde, stellte er fest: „Es ist hier eine gehäufte Schuld nicht der einzelnen, sondern der Gesamtheit, eine Schuld nicht bloß dieses Geschlechtes, sondern eine ererbte und eine von Jahrhundert zu Jahrhundert vererbte Schuld; eine Schuld, die jetzt im neuanbrechenden Zeitalter der Welt gesühnt werden soll.“ Der Begriff „sühnen“ dürfte in diesem Zusammenhang fehl am Platze zu sein. Es geht bei der Überwindung der Nachwirkungen des Konstantinismus nicht darum, in den Kirchen eine Art Schuldgefühl hervorzurufen. Worum es gehen muß, das ist das Bewußtmachen der geschichtlichen Tatsachen und Zusammenhänge. Die intensive Auseinandersetzung damit müßte in die Einleitung eines Veränderungsprozesses münden, der nicht in einer Generation abgeschlossen ist.
Diese Erneuerungsbewegung sollte drei Dinge zum Ziel haben:
1. Die bewußte Gestaltung des teilweise schon vollzogenen Abschieds von der Volkskirche und die Formierung kleiner agiler Gemeinden und Gruppen mit missionarischer Ausstrahlung und sozialen Aktivitäten, begleitet von einem weitgehenden Abbau der kirchlichen Bürokratie.
2. Die Aufkündigung der gerade in Deutschland noch deutlichen Verbindung zum Staat und die Hinwendung zu und Parteinahme für Arme und Außenseiter.
3. Überwindung der traditionellen politischen Abstinenz. Im Konstantinischen Zeitalter war Politik Sache der Herrschenden, die Untertanen sollten nur fromm und gehorsam sein. Im Gegensatz zur Zeit Jesu hat der Bürger moderner demokratischer Staaten eine ungleich größere politische Mitverantwortung, die Christen im Sinne von Frieden, Gerechtigkeit und Schöpfungsbewahrung aktiv wahrnehmen sollten.
Natürlich ist inzwischen manches in unseren Kirchen aufgebrochen. Elisabeth Adler, die Leiterin der Berliner Evangelischen Akademie berichtet von einer Diskussion, in der Walter Bredendiek gefragt wurde (s. S. 296 dieses Bandes), ob die Gesellschaft nicht honorieren müßte, daß die Kirche inzwischen manches gelernt habe. Seine Antwort: „Es muß nicht honoriert werden. Wir müssen weiter machen – uns um Veränderung bemühen. Christliche Existenz ist nicht eine nonkonformistische, sondern eine solidarische Existenz.“